Vor einer Weile habe ich meinen Sohn dabei beobachtet, wie er mit einem leeren Briefumschlag spielte. Ungefähr fünf Minuten lang, hochkonzentriert. Er hat den Umschlag gedreht und geschaut, wie sich dessen Form verändert. Seine kleinen Finger haben geübt, wie man ihn öffnet und gelernt, wie sich das Material anfühlt.

Irgendwann fing er an, das Papier zu zerreißen. Er lauschte dem Geräusch und betrachtete interessiert die weißen Fetzen, die er geschaffen hatte.

Während dieser Minuten fühlte sich mein Sohn sicher. Er wusste, dass seine Mama da ist. Deswegen konnte er alles um sich herum vergessen. Da waren nur er und der Briefumschlag.

Ich habe ihm ganz still zugesehen – fasziniert davon, wie tief versunken er war. Und ich wünschte mir, ich könnte das auch: Dinge mit so viel Hingabe und Ausdauer untersuchen. Dann bräuchte ich weder Netflix noch Twitter. Mir wäre niemals langweilig. Ich würde einfach jeden Gegenstand in unserer Wohnung, jeden Krümel auf der Straße zu meinem Forschungsobjekt ernennen und mich begeistert an die Arbeit machen.

Kreativität vs. Pragmatismus 

Mir ist schon klar, dass wir verrückt würden, wenn all die Dinge, die uns umgeben, uns auch als Erwachsene noch derart aus der Fassung brächten. Das Gehirn muss sortieren und lernen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Sonst wären wir schlicht nicht lebensfähig.

Gleichzeitig ist genaues Untersuchen und wildes Experimentieren die Basis für Kreativität. Das Kind testet, was es mit einem Gegenstand alles anstellen kann. Es hat dabei noch nichts bestimmtes im Sinn, alles ist möglich.

Und genau diesen Zustand vermisse ich manchmal. Für meinen Sohn ist der Briefumschlag ein kleines Mysterium. Für mich ist er nichts weiter als ein Hilfsmittel, um Nachrichten zu verschicken.

Mein kleines Mysterium

Eines der wenigen Dinge, die mich so sehr begeistern, dass ich alles um mich herum vergesse, ist mein Kind. Seit langem habe ich nichts mehr so eingehend studiert wie diesen Jungen.

Ich kenne jede seiner Bewegungen. Wie er die Augenbrauen hebt, welche Schnuten er zieht. Bemerke jeden neuen Kratzer. Ich weiß, wie seine Kauleiste aussieht, durch die sich gerade der vierte Zahn schiebt. Und ich kenne diese eine Wimper, die fast doppelt so lang ist wie all seine anderen.

Wenn ich ihn beobachte, bekomme ich eine leise Ahnung davon, wie es sein muss, diese Welt neu zu entdecken. <3